Jul 5, 2023

Alle Bilder stammen aus der Fotoserie Cacti (2023) von Rasha Al Jundi, mit Illustrationen von Michael Jabareen. Die Bilder wurden an bedeutenden Orten in Berlin aufgenommen, mit eingefügten Figuren in Keffiyehs. Damit soll dagegen protestiert werden, wie palästinensische Stimmen heute in Deutschland zum Schweigen gebracht werden.

Responsa

Bad Memory

Die Welt rühmt Deutschland für seine Aufarbeitung des Holocaust. Aber aus Vergangenheitsbewältigung ist ein Instrument der Ausgrenzung geworden.

Die Kolumne Responsa wird von Mitgliedern der Redaktion von Jewish Currents geschrieben und bildet ein kollektives Gespräch ab.

Irgendwann in den Nuller Jahren begann sich in Neukölln eine Gruppe vor allem türkischer Frauen zu treffen, um über den Holocaust zu lernen. Der Geschichtsunterricht für die Mitglieder der migrantischen Gruppe “Nachbarschaftsmütter” wurde von der Aktion Sühnezeichen ermöglicht. Die Frauen waren entsetzt von dem, was sie dabei lernten. “Ich fragte mich, wie eine Gesellschaft so fanatisch werden kann”, erinnert sich ein Mitglied namens Nazmiye. “Und wir fragten uns, ob sie uns auch so etwas antun könnten, ob wir in uns in der gleichen Lage wie die Juden wiederfinden würden”. Aber als die Gruppe bei einem Kirchenbesuch, der ebenfalls Teil des Programms war, diese Ängste äußerte, wurden ihre deutschen Gastgeber zornig. “Sie sagten, dass wir zurück sollen, wo wir herkommen, wenn wir so denken”, erinnert sich Nazmiye. Auf einmal war die Veranstaltung vorbei und die Frauen wurden aufgefordert zu gehen.

In Subcontractors of Guilt der Anthropologin Esra Özyürek finden sich viele solche Anekdoten. Die jüngst veröffentlichte Studie untersucht die verschiedenen deutschen Bildungsinitiativen zum Holocaust, mit denen arabische und muslimische Communities in den deutsche Ethos der Verantwortung und der Buße für die NS-Verbrechen integriert werden sollen. Özyürek zeigt, dass die Teilnehmer*innen solcher Programme oft Verbindungen herstellen, die ihre Lehrer*innen nicht intendiert hatten - etwa zu nationalistischer Gewalt im heutigen Deutschland, oder zur Gewalt, vor der sie geflohen sind, in Syrien, Türkei und Palästina. Die Ängste der Migrantin*innen, die durch diese historischen Begegnungen ausgelöst werden, sind für viele Deutsche, so Özyürek, “die falschen Gefühle”. Ein deutscher Guide, der Gruppen durch eine KZ-Gedenkstätte führt, erinnert sich, “verärgert” gewesen zu sein, wenn migrantische Besucher*innen die Angst äußerten, dass sie “die nächsten” seien, die deportiert werden würden: “Es fühlte sich so an, als ob sie nicht hierher gehören, und sich erst gar nicht mit deutscher Geschichte befassen sollten.” Um wirklich deutsch zu sein, müssen sie die Rolle reumütiger Täter spielen und sich nicht wie potentielle Opfer fühlen.

Diese Erwartungshaltung ist die Grundlage von dem, was die WissenschaftlerInnen Michael Rothberg und Yasemin Yildiz den “migrantischen double bind” nennen. In diesem Paradigma besteht der Kern modernen Deutschseins aus einer besonderen Sensibilität für Antisemitismus, die durch eine direkte, oft familiäre Beziehung zum Dritten Reich vermittelt wird. Von Migrant*innen und rassifizierten Minderheiten wird erwartet, dass sie dieses Erbe der Täter annehmen und tragen. Sollten sie dies nicht tun, ist das der Beweis, dass sie nicht wirklich nach Deutschland gehören. Es ist in anderen Worten ein typisch deutsches Paradoxon, ein Zeichen der verworrenen Dynamik zwischen Jüdinnen*Juden, Araber*innen und Deutschen: ein Anti-Antisemitismus fragwürdigen Ursprungs sorgt dafür, dass Deutsch-sein arisch bleibt.

Ein typisch deutsches Paradoxon und ein Zeichen der verworrenen Dynamik zwischen Jüdinnen* und Juden, Araber*innen und Deutschen: ein Anti-Antisemitismus fragwürdigen Ursprungs sorgt dafür, dass Deutsch-sein arisch bleibt.

Deutschland hat seinen Ruf als Paradebeispiel nationaler Aufarbeitung in den letzten Jahrzehnten weiter zementieren können, aber diese eben beschriebene Dynamik fehlt in der üblichen Berichterstattung über deutsche Erinnerungskultur fast völlig. So besuchte der Dichter und Wissenschaftler Clint Smith letztes Jahr für eine Titelgeschichte des Atlantic das Land, um herauszufinden, was die USA bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte rassistischer Gräuel von deutschen Wiedergutmachungsprozessen lernen können. Der Schluss des Berichts scheint Deutschland dafür zu loben, es überhaupt versucht zu haben: “Der bloße Akt des Erinnerns wird zum eindringlichsten Mahnmal von allen”. Smith ist bei weitem nicht der*die einzige, der*die von Deutschland beeindruckt ist: Beobachter*innen aus Ländern wie Kanada, Großbritannien oder Japan sehen in Deutschland ein mögliches Vorbild dafür, wie sie mit den Verbrechen ihrer eigenen Nationen umgehen können. Für uns hat aktuell Andrew Silverstein über spanische Erinnerungsaktivist*innen geschrieben, die die Aufarbeitung der Gewalt des faschistischen Franco-Regimes anschieben wollen, indem sie wie in Deutschland Stolpersteine in den Straßen verlegen.

Deutschlands Selbstverpflichtung zum Erinnern ist unbestreitbar beeindruckend. Keine andere Weltmacht hat so angestrengt versucht, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Während der Rest der Welt diese Reuekultur lobt, schlagen einige Deutsche Alarm - vor allem Jüdinnen*Juden, Araber*innen und andere Minderheiten. Sie sehen in diesem Umgang mit Erinnerung ein in erster Linie narzisstisches Projekt, mit bizarren und verstörenden Auswirkungen. Die Polemik Desintegriert euch! des Dichters und public intellectual Max Czollek erschien dieses Jahr in englischer Übersetzung, für uns hat Sanders Isaac Bernstein das Buch besprochen. Es knüpft an das Konzept des “Gedächtnistheaters” des Soziologen Y. Michael Bodemann an: Er beschreibt damit die Rolle von deutschen Jüdinnen*Juden in einem Narrativ, in dem es weniger um Wiedergutmachung an den Opfern eines Genozids denn um die Erlösung der TäterInnen und ihrer Nachfahren geht. 1991 schrieb Bodemann über die Erwartungen, die an Jüdinnen*Juden im gerade wiedervereinigten Deutschland gestellt werden: “Ganz unabhängig einzelner Überzeugungen, Perspektiven und Geschichten, sollen Juden durch ihre körperliche Anwesenheit die neue deutsche Demokratie repräsentieren und damit Ideologiearbeit leisten.” Czollek sagt, dass Jüdinnen*Juden diese Rolle bislang nur allzu gut gespielt haben. Damit haben sie Deutschen, die einst vor jedem erkennbaren Nationalismus zurückschraken (und zwar aus Angst, wohin er sie führen würde), das Gefühl gegeben, sich seine Rückkehr verdient zu haben. Das Ergebnis ist ein explosiver und fast triebhafter Nationalismus, den Czollek in Ereignissen wie dem verstörenden Wahlerfolg der AfD 2017 oder dem vermeintlich harmlosen Flaggenfuror während der WM 2006 erkennt.

Es überrascht kaum, dass sich dieser Wunsch nach einer nationalen Identität nach der Wiedervereinigung gegen die migrantische Bevölkerung Deutschlands richtet, vor allem Araber*innen und Muslim*innen. Mit der Zahl der Geflüchteten aus dem Nahen Osten in den Zehner Jahren hat auch die rechtsextreme Gewalt gegen sie zugenommen. Der tödlichste Anschlag war der in Hanau, bei dem ein Täter neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss, um so die “komplette Vernichtung der anderen Volksgruppen, Rassen und Kulturen in unserer Mitte” zu verwirklichen. Der deutsche Staat verurteilt solchen Extremismus, lässt aber nicht-weiße “Andere” nur zu äußerst eingrenzenden und unterdrückenden Bedingungen Teil des politischen Gemeinwesens werden. Während wir diesen Text schreiben, hat die Berliner Polizei wieder einmal unter Verweis auf Antisemitismusbedenken jede Demonstration in Solidarität mit palästinensischen Gefangenen und in Erinnerung an die Nakba, der Vertreibung der Palästinenser*innen durch zionistische Truppen während der Staatsgründung Israels, im Vorfeld verboten. (Kürzlich hat die Polizei zugegeben, dass Verhaftungen bei verbotenen Demos im letzten Jahr schon wegen des Tragens von Keffiyehs oder des Zeigens der Farben der palästinensischen Flagge erfolgt sind. Das erinnert an das ähnlich rabiate Vorgehen gegen die palästinensische Flagge in Israel.) Es zeigt sich, dass Deutsche sowohl die Gestalt des Jüdisch-seins wie auch des Palästinensisch-seins innerhalb deutscher Grenzen stark kontrollieren und maßregeln. Das steht im Widerspruch zu den vermeintlich humanisierenden Auswirkungen der Erinnerung an den Holocaust.

Wir sind nicht die ersten, die diese Dynamik beschreiben, wir leben auch nicht in ihrem direkten Spannungsfeld. Aber wir stehen in Solidarität mit deutsch-jüdischen Linken, die gestern von Deutschen ermordet wurden und heute von Deutschen in ihren Versuchen der Selbstorganisation bekämpft werden. Und wir stehen in Solidarität mit Minderheitengruppen, die vom Staat selbst oder staatlich sanktioniert unterdrückt werden, mit der Behauptung, dass dies im Sinne historischer Verantwortung geschehe. Wir schreiben dies, um unsere amerikanischen Leser*innen darauf aufmerksam zu machen, dass das heutige Deutschland ein wichtiges Schlachtfeld im Kampf um die Bedeutung des Jüdisch-seins an sich geworden ist, mit Konsequenzen für Palästinenser*innen auf der ganzen Welt. Und wir wenden uns direkt an Deutsche, um ihnen unsere Sicht darzulegen, als Redakteur*innen eines jüdisches Magazins, das sich gleichzeitig jüdischem Leben, palästinensischer Freiheit und der Erinnerung an den Holocaust verschrieben hat. In unserem Magazin veröffentlichte W.E.B. Du Bois 1952 seine Eindrücke aus dem Warschauer Ghetto, in unserem Magazin veröffentlichte der Nazijäger Charles R. Allen, Jr. Exposés zu Naziverbrechern, die von der US-Regierung Unterschlupf erhielten. Und so sagen wir: deutsche Erinnerungskultur kommt uns in ihrer gegenwärtigen Form wie Tragödie und Farce zugleich vor.

Deutsche Erinnerungskultur kommt uns in ihrer gegenwärtigen Form wie Tragödie und Farce zugleich vor.

Es dauerte eine Weile, bis Deutschland zum Inbegriff von Reue und Versöhnung wurde. Während des schnellen Wiederaufbaus neigte das Land gerade im Westen zur Leugnung. Der Schriftsteller W.G. Sebald sah die Ursache der bemerkenswerten Regeneration im “von allen gehüteten Geheimnis der in die Grundfesten unseres Staates eingemauerten Leichen, ein Geheimnis, das die Deutschen nach dem Krieg fest aneinander band”. Damals mussten sich sowohl Ost- als auch Westdeutschland mit der grässlich unangenehmen Wahrheit herumplagen, dass die NSDAP in der Bevölkerung noch bis zum Schluss viel Unterstützung gefunden hatte, die sich erst durch Hitlers Niederlage verbot. Die BRD reagierte darauf, indem sie diese Wahrheit unter den Teppich kehrte, die meisten Nazis “rehabilitierte” und sie wieder in die Gesellschaft integrierte. Die DDR wich dem Vermächtnis der Nazis nicht in dieser Form aus, und erinnerte häufig und öffentlich an ihre Verbrechen. Dabei folgte das junge Land aber den Vorgaben der Sowjetunion, seinem wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Förderer, und gedachte abstrakt den Opfern des Faschismus per se, ohne Anerkennung des spezifischen Genozids an den Jüdinnen*Juden. Nazis niedrigeren Ranges gewährte die Republik einfachen Zugang in ihre neue antifaschistische Identität. Spätere deutsche Generationen, darunter auch einige Radikale der 1960er und 70er, lösten das Problem auf eigene Weise. Ihre schuldfreie politische Identität basierte auf dem chronologischen Fakt des Nachgeborenseins.

In den Achtzigern begannen deutsche Aktivist*innen, auch vor dem Hintergrund eines weltweit wachsenden Interesses an Gedenkstätten und dem Entstehen der “memory studies”, sich für stärkere Anerkennung des Holocausts einzusetzen. Auf Konfrontationskurs mit einer unwilligen konservativen Regierung führten diese Aktivist*innen teils dramatische öffentliche Aktionen durch, wie die Besetzung von ehemaligen KZs oder symbolischen “Ausgrabungen” auf dem Gelände einer ehemaligen Gestapo-Zentrale. Sie sollten so zu Orten öffentlicher Bildung werden. Während der Wiedervereinigung wurde aus diesen Grassroots-Anstrengungen offizielle Staatspolitik.

Natürlich erfolgte diese nationale Hinwendung zu Gedenkstätten und Erinnerung nicht uneigennützig. Das neue vereinte Deutschland wollte seinen Platz neben den anderen westeuropäischen Nationen finden, und versuchte deswegen in den folgenden zwei Jahrzehnten zu beweisen, dass es ausreichend Abbitte geleistet hatte. Dafür wurde eigens ein neuer Begriff geprägt: im Zentrum der deutschen nationalen Identität stand die “Vergangenheitsbewältigung”. Um seine Abbitte zu untermauern, verkündete das Land eine “jüdische Renaissance”, vor allem durch Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Zuführung dieser Jüdinnen*Juden wurde, in den Worten von Hannah Tzuberi, “der wertvollste Garantiebeleg für den demokratischen, liberalen und toleranten Charakter Deutschlands”. 2005 manifestierte die Nation diese Selbstverpflichtung auch physisch, mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, einem weiten Feld aus Betonsäulen im Herzen von Berlin. (Das Mahnmal geht hauptsächlich auf die Bemühungen von Lea Rosh zurück, einer Deutschen, die ihren Vornamen Edith durch einen jüdischen ersetzt hatte, und die später für ihren Plan kritisiert wurde, einen von ihr aus der Gedenkstätte Belzec geklauten Zahn in das Mahnmal einfügen zu lassen.) Das Ergebnis dieser öffentlich dargestellten Reue war, dass “Deutschland endlich bereit war, die EU anzuführen, denn jetzt hatte es nicht nur die wirtschaftliche Hegemonialstellung, sondern lag auch in Sachen Menschenrechten vor allen anderen”, merkte der Historiker Enzo Traverso letztes Jahr sarkastisch in Jacobin an. “Heute ist [Erinnerung an den Holocaust] das Insignium einer neuen politischen Normativität: Marktgesellschaft, liberale Demokratie, und Verteidigung (ausgewählter) Menschenrechte.”

Aber diese öffentlich Buße hat ihre Grenzen. Sie schließt zum Beispiel nicht den von der deutschen Schutztruppe zwischen 1904 und 1908 an den Herero und Nama verübten Genozid ein, bei dem zehntausende Menschen ermordet wurden. Deutschland hat sich erst 2021 für dieses Verbrechen entschuldigt, und stimmt immer noch nicht den geforderten Reparationszahlungen an die Nachkommen der Opfer zu. Die neue deutsche Identität beruht darauf, den Holocaust als schändlichen Ausreißer aus der nationalen Geschichte abzutrennen, und ihn dann durch ehrwürdiges Erinnern zu tilgen. Für das Erinnern an koloniale Gewalt in ist in der nationalen Selbstmythologisierung wenig Raum. Der Genozidforscher Dirk Moses nannte dies den “deutschen Katechismus”, sein gleichnamiger Essay löste 2021 eine erhitzte Debatte aus. “Kurz gefasst impliziert der Katechismus eine Heilsgeschichte, in der die „Opferung“ der Juden durch die Nazis im Holocaust die Voraussetzung für die Legitimität der Bundesrepublik darstellt”, schrieb Moses. “Deshalb ist der Holocaust für sie weit mehr als ein wichtiges historisches Ereignis: Er ist ein heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereignisse – etwa durch nichtjüdische Opfer oder andere Völkermorde – kontaminiert werden darf, da dies seine sakrale Erlösungsfunktion beeinträchtigen würde.”

Daher versteht Deutschland seinen Auftrag nach dem Holocaust nicht im breiteren Kampf gegen Rassismus und Gewalt, sondern in der konkreten Loyalität zu einer bestimmten jüdischen politischen Formation: dem Staat Israel. Deutschland braucht seine engen diplomatischen Beziehungen zu Israel, um seine Abkehr vom Nazismus zu betonen, aber die Verbindung zum jüdischen Staat reicht tiefer. 2008 erklärte die damalige Kanzlerin Angela Merkel vor dem Knesset, dass der Schutz von Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson gehöre. Auf die Frage, warum ein deutscher Nationalismus, der letztlich Auschwitz hervorgebracht hat, denn erhaltenswert sei, gibt es jetzt eine befriedigende und historisch symmetrische Antwort: weil er den jüdischen Staat unterstützt.

Auf die Frage, warum ein deutscher Nationalismus, der letztlich Auschwitz hervorgebracht hat, denn erhaltenswert sei, gibt es jetzt eine befriedigende und historisch symmetrische Antwort: weil er den jüdischen Staat unterstützt. 

Zu diesem Zweck wird auch Deutschlands eigentlich bewundernswertes System der Kulturförderung eingesetzt, um eine Bundestagsresolution von 2019 durchzusetzen, in der die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) gegen Israel für antisemitisch erklärt wird. Obwohl die Resolution nicht gesetzlich bindend ist, gibt es seit ihrer Verabschiedung einen nicht enden wollenden Strom an Entlassungen und Veranstaltungsabsagen, und das de facto Blacklisting von renommierten Akademiker*innen, Kulturschaffenden, Künstler*innen und Journalist*innen für Vergehen wie das Einladen eines wichtigen postkolonialen Theoretikers, Tweets mit Kritik an der Bundestagsresolution oder der Besuch der falschen Demonstration als Jugendliche. Ein Netzwerk aus Antisemitismusbeauftragten - mehr dazu in einem Artikel von Peter Kuras - wurde bestellt, um solche Vergehen zu überwachen. Diese Beauftragten sind normalerweise weiße christliche Deutsche, die im Namen von Jüdinnen*Juden sprechen und häufig selbst in der Öffentlichkeit mit einer gewissen Jüdischkeit spielen, mit Pressefotos in Kippot, dem Aufführen jüdischer Musik oder dem Tragen israelischer Polizeiuniformen. Sie verkünden, wer als nächstes an den Pranger kommt. Wenn sie mit linken Jüdinnen*Juden in Deutschland aneinander geraten, ihre Veranstaltungen canceln und sie in verschiedenen großen Tageszeitungen des Antisemitismus beschuldigen, folgen sie nur dem, was der Bundesbeauftragte Felix Klein offen ausspricht: dass diese Juden nicht sensibel genug dafür sind, was Antisemitismus mit den Deutschen macht - dass überhaupt diese Juden Antisemitismus gar nicht richtig verstehen. Die Tatsache, dass die Deutschen die erfolgreichsten Antisemiten in der Geschichte waren, ist heute, das ist der perverse Twist, eine Qualifikation. Indem sie die vollendeten Beschützer der Juden geworden sind, haben die Deutschen die moralischen Lehren des Holocaust als jüdisches Martyrium so sehr verinnerlicht, dass sie den Juden nur noch als Symbol brauchen. In der Logik dieses merkwürdigen Superzessionismus sind die Deutschen die neuen Juden. Das meint nicht nur rhetorische Autorität in jüdischen Angelegenheiten, sondern ist oft buchstäblich zu verstehen, da dieser selbstreflexive Philosemitismus zu einer Welle deutscher Konversionen zum Judentum geführt hat. Tzuberi: “die jüdische Wiedergeburt wird gewollt, gerade weil sie eine deutsche Wiedergeburt ist.”

Jüdinnen*Juden werden dadurch negiert, Palästinenser*innen hingegen diffamiert. Im letzten Jahr untersagte der deutsche Staat Demonstrationen zum Nakba-Tag, nur wenige Tage nach dem Mord an der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh. Die Polizei rechtfertigte diese Unterdrückung mit der an rassistische Topoi anknüpfenden Behauptung, dass die Protestierenden nicht in der Lage seien, ihre gewalttätige Wut zu beherrschen. In Deutschland ist palästinensische Identität an sich schon zu einem Marker von Antisemitismus geworden, und wird deswegen kaum laut geäußert - obwohl im Land die größte pälästinensische Community Europas lebt, mit mehr als 100.000 Menschen. “Wenn ich erzählt habe, dass ich Palästinenserin bin, wurden meine Lehrer wütend und haben gesagt, dass ich gefälligst Jordanerin sagen soll”, schilderte eine palästinensische Deutsche der Reporterin Hebh Jamal ihre Schulzeit. Palästinensisch-sein ist aus dem öffentlichen deutschen Leben verbannt. In The Moral Triangle, einer anthropologischen Studie von 2020 von Sa’ed Atshan und Katharina Galor zu palästinensischen und israelischen Communities in Berlin, sagen viele der interviewten Palästinenser*innen aus, dass über ihren Schmerz und ihr Trauma durch die israelische Politik zu sprechen bedeuten würde, ihre Zukunft in Deutschland zu zerstören. “Die kollektive Palästinenserheit gilt als ontologisch antisemitisch, bis das Gegenteil bewiesen ist. Palästinenser sind demnach der Kollateralschaden des sich intensivierenden deutschen Wunsches nach Reinigung von Antisemitismus”, schreibt Tzuberi.

Die besorgten Deutschen haben Recht: Antisemitismus nimmt in Deutschland zu. Aber er kommt von rechts, von weißen Deutschen. Wie in den USA gibt es auch in Deutschland keine andere Gruppe, die allein den Zahlen nach ähnlich virulent antisemitisch agiert. Die AfD sitzt immer noch im Bundestag, wo sie sich dafür einsetzt, das Gedenken an den Holocaust zu beschränken. Die Covid-19-Pandemie hat eine laute und verschwörungstheoriehörige Anti-Impf-Bewegung hervorgebracht, deren Feindbild klar sein dürfte. In der Polizei, in der Bundeswehr, in den Geheimdiensten sind immer mehr Rechtsradikale, sie arbeiten sogar im Bundestag. Die weißen Ritter des Antisemitismus scheint das nicht groß zu sorgen. Für sie ist das alles nichts im Vergleich zu BDS. Dadurch werden Palästinenser*innen, und Muslim*innen allgemein, zum Hauptobjekt der Antisemitismusdebatte. Wie selbstverständlich sprechen Politiker*innen von “importiertem Antisemitismus”, den die Migrant*innen aus dem Nahen Osten mitgebracht hätten. Özyürek schreibt in Subcontractors of Guilt, dass die Deutschen “das allgemeine gesellschaftliche Problem des Antisemitismus auf diese Minderheit mit Herkunft im Nahen Osten abgeladen haben”. Die zu begrüßende Liberalisierung des Einbürgerungsrechts in Deutschland, die es Migrant*innen erleichtert, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, trägt zu dieser Dynamik bei. Durch sie entstehen Ängste über die Essenz des Deutsch-seins, die zu dem erwähnten migrantischen double bind führen, in dem weiße Deutsche (oder Biodeutsche, wie sie bezeichnenderweise manchmal immer noch genannt werden) ihre Zugehörigkeit durch eine spezielle Performance des Anti-Antisemitismus bekräftigen. Auf diese Weise sorgt die vermeintliche Abkehr von einer rassistischen Vergangenheit dafür, dass sie sich bis in die Zukunft zieht.

Nicht nur in Deutschland gehen diese anti-antisemitischen Kämpfe gründlich schief. Jüdische Gemeindeorganisationen auf der ganzen Welt verfolgen ähnliche Maßnahmen, mit ähnlich illiberalen Ergebnissen. Für den Philosophen Elad Lapidot, Autor von Anti-Antisemitismus, stellen diese Kampagnen von vornherein eine Einschränkung dar. Lapidot schreibt, dass das gut gemeinte Eintreten gegen die Vorstellung von Juden als spezieller Rasse mit inhärenten biologischen Merkmalen ein Tabu erzeugt hat, Jüdinnen*Juden überhaupt geteilte Charakteristiken zuzuschreiben, ob religiös, kulturell, politisch oder in anderer Form. “Der anti-antisemitische Diskurs behauptet ein jüdisches Kollektiv, das ohne Essenz, ohne Gemeinschaft, ohne Eigenschaft existiert”, schrieb er 2021 in Tablet. “Anti-Antisemitismus versucht, Antisemitismus zu bekämpfen, indem er leugnet, dass es Juden überhaupt gibt.” Es muss dabei aber gesagt werden, dass diese Selbstverleugnung durch Bescheidenheit häufig von jüdischen Gemeinden selbst ausgeht, genauso wie die politische Israelsolidarität, die sie fast immer begleitet. Wenn der Zentralrat der Juden selbst, als größte Körperschaft der Jüdinnen*Juden in Deutschland, hauptsächlich im Anti-Antisemitismus aktiv wäre, würde die Sache vermutlich nicht besser stehen. Aber der bemerkenswerte Eifer, mit dem sich stattdessen Deutsche dieser Aufgabe angenommen haben, ist der genaueren Betrachtung wert. Wie sowohl Jüdischkeit als aus Palästinensischkeit hier durch pompösen Anti-Antisemitismus entleert und ausgehöhlt werden, hat einen auslöschenden Hall. Nur Deutsche - mit ihrer Schuld, ihrer Schande, ihrem Bewältigung, ihrem heimlichen Stolz - sind in diesem Schema dreidimensional.

Der deutsche Philosemitismus entblößt sich hier als nur ein weiteres Vehikel für eine imaginäre deutsche Vorherrschaft, für supremacy, ein Vehikel, das vielleicht gerade wegen seiner antirassistischen Fassade so attraktiv ist.

Deutscher Philosemitismus entblößt sich hier als nur ein weiteres Vehikel für deutsche Vorherrschaft, für supremacy, das vielleicht gerade wegen seiner antirassistischen Fassade so attraktiv ist. Deutschlands erdrückende Umarmung der jüdischen Gemeinden innerhalb seiner Grenzen, mit oder ohne Beteiligung von Jüdinnen*Juden, stärkt das deutsche Selbstbild als moralische Instanz und lädt die Schuld des Landes auf Araber*innen und Muslim*innen ab. Das funktioniert auch international, wenn die deutsche Staatsräson mit dem Schutz des jüdischen Staates verknüpft wird. Es ist kein Zufall, dass Mathias Döpfner, CEO von Axel Springer, in internen Nachrichten ohne einen Hauch Ironie “Zionismus über alles” verkündet hat. Wir können das als projizierten Nationalismus verstehen, in dem Deutsche ihre nationalen Bestrebungen via Jüdinnen*Juden und dem Staat Israel ausleben - als Ersatzsupremacy, einem Prozess also, in dem nationale Überlegenheit durch die Projektion auf einen Ersatzstaat bewahrt wird.

Die Ergebnisse dieser Analyse bedrohen natürlich das deutsche Selbstbild. Uns ist auch klar, dass unsere Position in Deutschland wohl eher nicht wohlwollend angenommen werden wird, schon weil sie eine Kritik am israelischen Staat beinhaltet, die in Deutschland an den Rand des Diskurses gedrängt wird. Selbst Max Czollek, der sich seinen Ruf durch scharfe Kritik an deutschem Nationalismus erarbeitet hat, weigert sich, Kritik an Israel in sein Schema zu integrieren, was sicherlich einer der Gründe ist, warum er vom deutschen Kulturbetrieb so herzlich empfangen wurde. Es erfordert Mut, für deutsche Bürger*innen und deutsche Politiker*innen gleichermaßen, die Umrisse der deutschen Erinnerungskultur wieder zu hinterfragen - nicht trotz, sondern wegen ihrer Schuldigkeit gegenüber den Opfern der Nazis, jüdischen und allen anderen. Dadurch kann in der deutschen Psyche Jüdisch-sein wieder wirklich etwas bedeuten, und einzelne Jüdinnen*Juden werden wieder als Menschen gesehen. Vielleicht kann das auch für Palästinenser*innen gelten, deren Familien von israelischer Politik unterdrückt werden und deren Identitäten von deutscher Politik ausgemerzt werden sollen. Nur so kann Deutschland hoffen, eine wirkliche Umkehr zu vollziehen, nicht nur von seinen eigenen nationalistischen Impulsen, sondern auch vom ethnonationalistischen Projekt, das es gegenwärtig in Israel schützt. Immerhin ist die jüdische Vorherrschaft, die von Siedlungen in den Hügeln bis in die Knesset strahlt, auch Teil des deutschen Vermächtnis: sie ist eine pervierte Lehre aus der Shoah.

All das funktioniert aber nur, wenn anders mit Erinnerung und ihren Vorschriften für die Gegenwart umgegangen wird. Der Philosoph Olúfẹ́mi O. Táíwò bietet in “Reconsidering Reparations” so einen Weg an. Statt starr auf die Vergangenheit zu blicken, um zu bestimmen, wie Gerechtigkeit heute aussehen soll, fordert Táíwò eine konstruktive Vorstellung von Wiedergutmachung, die “sowohl auf heutiges Unrecht in der Verteilung als auch auf die Folgen gesammelter ungerechter Verteilung im Verlauf der Geschichte reagiert.” Er fragt: “Was, wenn der Bau der gerechten Welt schon die Wiedergutmachung ist?” Dieses zukunftsorientierte Framework erfordert ein genaues Gespür für die Strukturen vonsupremacy, und das Bewusstsein, dass sich ihre Ziele und ihr Wirken auch ausweiten oder ändern können. In den Achtzigern und Neunzigern forderten die Deutschen Rechenschaft. Sie organisierten Lichterketten, bildeten historische Arbeitsgruppen und besetzten Gebäude aus der Nazi-Zeit, um sie so als Beweismaterial zu erhalten. Heute muss ein inklusiveres deutsches Volk diesen Geist wiederbeleben und zur Not diese Prozesse dem Staat und staatlichen Institutionen entreißen, und sie und sich neu im Kampf gegen supremacy in all ihren Formen verorten. Erinnerungsarbeit ist nie vollendet. Dieser Prozess, der an eine verschwindende Vergangenheit geknüpft ist, mag sich wie eine Last anfühlen. Deutsche sind verständlicherweise versucht, diesen Prozess für beendet zu erklären. Aber vielleicht steckt nicht nur Verpflichtung, sondern auch Erfüllung in der Einsicht, dass Erinnerung ein Terrain ist, auf dem auch neue Welten gebaut werden können.

Mit Dank an Emily Dische-Becker, Ben Ratskoff, Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer.

In einer früheren Version dieses Artikels wurde ein Essay von Fabian Wolff, der sich zu diesem Zeitpunkt als jüdisch identifiziert hatte, über deutsch-jüdische Identität zitiert. Nach Veröffentlichung des Artikels erschien ein neuer Essay von Wolff, in dem er enthüllte, erfahren zu haben, nicht jüdisch zu sein. Angesichts dieser neuen Informationslage haben wir die Passage, in der Wolff zitiert wurde, gestrichen.